Rettung vor dem Flammentod

Heulender Sturm umtost in der letzten Nacht des Jahres die alte Mühle des Fleckens Gossenzugen. Im Ort, der abseits der Durchgangsstraße von Saulgau nach Reutlingen liegt, sind die Bewohner längst zu Bett gegangen, da in knapp 24 Stunden Silvester naht. In der Mühle der Familie Hummel ist die 66jährige Schwiegermutter Frau Voitzig allein. Ihre Kinder sind nach auswärts gefahren. Dass keine fremden Eindringlinge die Mühle besuchen, dafür wird der kleine Spitz sorgen, der seinen Platz im Erdgeschoss des einsamen Hauses hat. Wie kann die Hausbewohnerin ahnen, dass sie in wenigen Stunden das aufregendste Erlebnis ihres Lebens haben wird!

 

Eben hat die Turmuhr des nahen Münster von Zwiefalten halb zwei Uhr in der Früh angekündigt, als Frau Voitzig glaubt, draußen ein seltsames Prasseln zu hören. Doch sie schiebt das ungewohnte Geräusch auf den Wind, der durch die Wälder des Obermarschtals braust.

Etwa zehn Minuten mögen vergangen sein. Mutter Voitzig ist in einen leichten Halbschlaf verfallen, als sie plötzlich abermals hochschreckt. Draußen an der Tür ihrer Kammer kratzt etwas. Sie hört es deutlich. Sind es Ratten, die in der uralten Mühle ihr Unwesen treiben? Doch jetzt ist auch deutlich ein Fiepen zu hören. Kein Zweifel: Der Spitz fühlt sich unten im Erdgeschoss einsam und möchte ein warmes Plätzchen auf der Bettdecke haben. Mehrmals kratzt er an der Tür. "Bist du ruhig, Spitz!" ruft sie energisch. Doch damit erreicht sie nur, dass das Kratzen an der Tür immer hartnäckiger, das Winseln immer lauter und klagender wird. Frau Voitzig erhebt sich schließlich doch, um den kleinen Störenfried einzulassen. Kaum hat sie jedoch die Türe geöffnet, als sie erschrocken zurückprallt. Ein beißender Qualm wälzt sich ihr entgegen. Sie sieht die Flammen, die bereits an der Treppe züngeln. 

 

Ohne sich noch einmal umzusehen, eilt die von  den Flammen fast eingeschlossene Frau die steile Treppe herab, sie kennt zum Glück jede Tür. Mit knapper Not erreicht sie die Haustür. Im Nachthemd eilt sie laut um Hilfe rufend nach draußen. Jetzt erst bemerkt sie ihren Spitz, der sich an ihre Fersen geheftet hat. 

 

Als die Nachbarn die hilflose Frau bei sich aufnehmen, bricht bereits ein Teil der brennenden Mühle zusammen. Der Spitz, der in seiner höchsten Not durch Qualm und Flammen zur Bodenkammer eilte, um die Herrin zu wecken, hat ihr das Leben vor einem entsetzlichen Flammentod gerettet. "Ohne den Hund", darüber ist man sich von Sigmaringen bis Blaubeuren einig, "wäre der Brand der alten Mühle zu einer Tragödie geworden!"

Aus: Neue Welt Nr. 5, 1966

Kommentare: 0